Musik in Zeiten der Prüfung

 

Viele Menschen kennen das Gefühl, dass wir in Dunkelheit oder Ungewissheit instinktiv anfangen, eine Melodie zu summen – als suchten wir darin Schutz vor der Angst. In der Musiktherapie ist dieses Phänomen, sich selbst als etwas Größeres, Erfüllteres zu erleben oder durch aktives Musizieren die eigene Präsenz zu spüren, ein zentrales heilendes Werkzeug.

 

Besonders deutlich zeigt sich dies in der Improvisation, bei der der Interpret selbst die Grenzen seiner inneren „Verdopplung“ in der Musik schafft und dabei eine Erfahrung von Ganzheit und bewusster Selbstäußerung macht. Wigram et al. (2002) führen Beispiele von Patient*innen an, die den Kontakt zu ihrem Körper, das Gefühl der Erdung oder die Orientierung in Zeit und Raum verloren haben. In solchen Momenten empfehlen Fachleute, eine kurze Melodie oder deren Fragment als eine Art „Anker“ zu verwenden. Die Identifikation mit dieser Melodie vermittelt ein Gefühl der Sicherheit – dass man nicht „aus der Welt verschwunden“ ist oder den Bezug zur Realität völlig verloren hat. In der Wiederholung wirkt die Musik wie ein Rettungsring für das Bewusstsein, löst allmählich den Zustand der Dissoziation auf und schafft eine sensorische Verbindung sowohl zum Körper als auch zur akustischen Umgebung – sie bietet gleichzeitig eine Struktur, an der man sich festhalten kann.

 

Für die Ukrainer*innen in der Ukraine

 

Für diejenigen, die seit mehr als drei Jahren unter den zerstörerischen Bedingungen des Krieges leben, verliert der Aufruf „Haltet durch!“ zunehmend seine ursprüngliche Kraft und Bedeutung. Er verwandelt sich in einen verzerrten Alltag, geprägt von Schmerz und der empörenden Ironie einer Ungewissheit in einem Land, in dem „alles das Teuerste ist – nur wir sind billig“. Solche verbalen „Ermutigungen“ rufen inneren Zorn hervor und werfen verständlicherweise eine sarkastisch-bittersüße Frage auf: „Woran genau soll man sich festhalten?! An der endlosen, sinnlosen Kriegstreiberei der Mächtigen?! An einem Schmerz, der ein unverzichtbarer Teil der Existenz geworden ist?!“ In solchen Momenten gewinnt der Rückgriff auf Musik – auf eine stille Melodie im Herzen – besondere Bedeutung. Zunächst lenkt sie ab, bringt ins Hier und Jetzt zurück – und dann trägt sie, führt weiter… Eine zarte Melodie aus den Tiefen der eigenen Erinnerung wird zu einem Wiegenlied, das inmitten des schmutzigen Alltags, der allgegenwärtigen Verrohung und moralischen Verelendung, inmitten von Schmerz und Explosionen daran erinnert, dass du ein Mensch bist – mit einem einzigartigen Weg, einer unverwechselbaren Vergangenheit und einer Gegenwart, so schwierig sie auch sein mag. Und du wirst weitergehen – mit einem Lächeln die Scherben deines Lebens aufsammelnd und festhaltend, das Andenken ehrend und deine eigene Zukunft erschaffend.

 

Heute wenden wohl viele Ukrainer*innen unbewusst eine Technik zur Bewältigung von aufkommender Panik an, indem sie sich auf fünf Sinneseindrücke konzentrieren: „Was sehe ich? Was höre ich? Was rieche, schmecke, fühle ich?“ In diesen schrecklichen Momenten versuchen Sie, sich an eine Lieblingsmelodie zu erinnern – oder an eine, die plötzlich in Ihrem Bewusstsein auftaucht. Konzentrieren Sie sich auf ihren Rhythmus, halten Sie sich fest an ihr – und lassen Sie sich von ihr führen.

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Zart und zugleich voller Würde, mit stürmischer Dynamik und Lebensenergie – die Klaviersonate a-moll (KV 310/300d) von Wolfgang Amadeus Mozart entstand in einer für den Komponisten tragischen Zeit des Verlusts seiner Mutter und ist eine von nur zwei Mollsonaten Mozarts. Lauschen Sie ihrer dreiteiligen Erzählung (Allegro maestoso – Andante cantabile con espressione – Presto): Darin liegt alles – unaussprechlicher Trauerschmerz, Flüchtigkeit und die bittere Tragikomik des Lebens, aber auch tiefe Dankbarkeit und Achtung vor der Vergangenheit, die Kraft gibt, weiterzugehen, jedes Hindernis zu überwinden, das Andenken zu bewahren, unvergängliche Schönheit zu schätzen – und sie zu mehren.

 

Musikmedizin und Therapie. – Kyjiw: Interservis, 2025. – 114 S.

ISBN: 978-966-999-514-8

[Buch auf Ukrainisch]




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